Unterwegs

Hart schlägt Jamila mit dem Kopf auf den Felsen. Ein höllischer Schmerz, durchdringt ihr Gehirn und zieht sich bis zum Herz hinunter. Stockdunkel ist die Nacht, morgens um zwei. Nur schwach sind ein paar Sterne im nächtlichen Dunst auszumachen. Wo ist der Mond? Sie versucht, sich am glitschigen, algenüberzogenen Felsen festzukrallen. Rutscht gleich wieder ab und klatscht zurück ins Meer. Japst verzweifelt nach Luft. Schwimmen hat sie nie gelernt. Da, wo sie herkommt, ist nur Wüste, alles ist zerbombt, es gibt fast nichts. Vor allem kein Wasser.
Als sie nach Luft ringend wieder an die Oberfläche kommt, hört sie Schreie. „Amal, Amal, Aaaaamaaal“, ruft verzweifelt eine Stimme neben ihr. Inshallah, unsere Tochter! Amal, Amal! Jamila stößt sich wieder vom rettenden Felsen ab um ihre Tochter zu finden, klatscht in die Fluten, schluckt Wasser. Könnte sie doch nur schwimmen! Zappelnd hält sie sich halbwegs oben, verzweifelt immer mehr. Endlos lang. Bis die allerletzte Energie aufgerieben ist, da zieht sie sich erfolglos und ausgelaugt über die Felsen ans rettende Land. Tropfnass, keuchend, am Ende ihrer Kräfte und vor Kälte schlotternd legt sie sich gekrümmt auf den Boden. Da sind schon andere, ebenso ausgepustet. Auch sie waren auf diesem verdammten Schlauchboot. Nun sind sie angekommen. Da, wo sie seit Monaten hinwollten. Ins Paradies. Europa. Leros. Der Traum.
Doch ohne Amal! Jamila zerbricht vor Herzschmerz, was tut sie überhaupt hier? Sie liegt zerstört auf dem harten Boden, ihr Mann zum Himmel wehklagend, obwohl die beiden älteren Söhne es geschafft haben. Nur Amal wurde ihnen vom Meer entrissen. Tod und Verderben, dass ist ihr Leben. Schon seit langem, denn sie kommen aus Gaza. Ein grauenhaftes Leben voller Hunger, Schrecken und Bomben. Eines Nachts schaffte es ihr Mann, sie mit den drei Kindern durch die Grenze zu schleusen. Wochen später erreichten sie die türkische Küste. Wenn sie wenigstens diesen fragilen Körper sichten und bergen könnten, wenn auch leblos.
Auch bei Salma ist das Leben hoffnungslos. In den Steppen der Wüstenlandschaft Sudans zu leben, war schon hart genug. Aber es wurde noch bitterer. Wurden sie nicht von den Rapid Support Forces geplündert, ermordet oder vergewaltigt, tauchten nach ein paar Tagen die offiziellen Militärs auf. Sie „befreiten” sie und schon ging das Plündern, Morden und Vergewaltigen weiter. Kann man da noch etwas verlieren? Wo bleibt da die menschliche Würde, von der Allah im Koran spricht? Hunger erträgt man, doch ein Leben ohne Achtung, in absoluter Negierung der menschlichen Ehre, das ist das Schlimmste. Vor allem als Frau.
Murilla ist aus einem weiteren schrecklichen Krieg geflohen. Warum leben Menschen nicht in Frieden? Warum hört niemand auf die normalen, einfachen Menschen? Die bloß etwas essen und die Kinder großziehen möchten? Wer in Libyen gegen wen kämpft, hat sie nie verstanden. Geht es um Erdöl, Goldminen oder Geld? Oder schlicht um Macht? Sicherlich geht es nicht um die Bevölkerung, die hier lebt. Zudem kommen viele Menschen zu ihnen, die den weiten und oft tödlichen Weg durch die Sahara hinter sich haben. Die weiter wollen über das Meer. Trotz ihrer Armut helfen sie ihnen. Bis viele von ihnen halb ausgehungert von den Militärs in unmenschliche Lager gesteckt werden, welche von den Europäern finanziert sind. Also von dort, wo sie eigentlich hin will.
Jamila, Salma und Murillo. Ich treffe die drei Frauen auf dem steilen Weg hinauf ins Flüchtlingslager auf der Insel Leros. Dies ist real, keine literarische Freiheit des Schriftstellers. Die Sonne brennt unerbittlich. Die drei haben sich auf dem Gummiboot des Schleppers kennengelernt. Leid vereint und tröstet zugleich, wenn auch bloß wenig. Gibt es schlimmere Orte auf der Welt als da, wo sie herkommen? Vor allem als Frau, wie sie alle drei sagen. Trotzdem sei es gut hier im Camp in Leros. Besser als in Gaza, Sudan oder Libyen. Man lebe einfach, aber halbwegs sicher. Zumindest keine Bomben und Kalashnikovs. Im Flüchtlingscamp gibt es Wasser, wenn auch bloß morgens. Und eine Mahlzeit pro Tag. Nach drei Wochen werden sie weitergebracht. Aber ohne Amal, klagt Jamila. Wie fürchterlich. Wahrscheinlich nach Athen. Sie möchten nicht speziell irgendwo hin. Bloß leben, mit etwas Würde. Sie möchten arbeiten, um Geld zu verdienen. Niemandem zu Last fallen. Denn ohne Geld ist es schwierig, weiterzukommen.
Auf der anderen Seite der Bucht schaukelt die Tuvalu vor Anker. Ich könnte jederzeit lossegeln, nach Barcelona oder noch einmal um die Welt. Ich fühle mich unendlich traurig über mein Glück. Denn ich reise bloß um des Reisens willen.

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